Gesundheitswesen: Qualität des freien Marktes

09.08.2018

Wie gut ist das Schweizer Gesundheitswesen? Offiziell wird das hohe Niveau gelobt. Die Erfahrungen von Cédric George aus Sicht einer Privatklinik ergeben ein anderes Bild.

An der Oberfläche macht der Gesundheitssektor einen ruhigen Eindruck, Prämienerhöhungen werden erst im September zum Thema, aber unter der Decke brodelt es. Ärzte, Spitäler und Krankenkassen bleiben zerstritten über die Revision der veralteten Tarifordnung Tarmed für ambulante Leistungen, sodass weiterhin die von Bundesrat Alain Berset angeordneten und von der Ärzteschaft bekämpften Ansätze für Ärger sorgen. Daneben wird der Kampf um die Finanzierung der Spitäler erbitterter. Die Bundespolitik nimmt einen neuen Anlauf, um ambulante (ohne Übernachtung) und stationäre (mit Übernachtung) Spitalleistungen auf gleiche Art zu finanzieren. Heute werden die stationären Leistungen der Grundversicherten etwa je zur Hälfte durch Kantone und Krankenversicherer finanziert, die ambulanten Leistungen dagegen voll durch die Versicherer, was zu teuren Verzerrungen führt. Das Ganze den Krankenkassen zu überantworten, läge nah, dagegen wehren sich aber die Kantonspolitiker, die im Spiel bleiben wollen.

Schliesslich will das Parlament ein ganzes Paket flächendeckender Massnahmen zur Qualitätssicherung und Effizienzsteigerung beschliessen. Diskutiert werden etwa Qualitätskommissionen, spezielle Datenlieferungen und Sanktionen. Es soll eine Art Zusatzapparat ins bestehende Gesundheitssystem eingebaut werden, der von staatlicher Seite gesteuert wird. Nach dem Willen des Nationalrats sollen die Bestrebungen zur Verbesserung der Qualität im Gesundheitswesen nicht aus Prämiengeldern, sondern mit Subventionen von Bund und Kantonen finanziert werden. Der Hinweis auf all die Schnittstellen zu anderen Revisionen des Krankenversicherungsgesetzes macht deutlich, wie komplex das ganze Vorhaben ist.

Der Krankenkassenverband Santésuisse begrüsst eine flächendeckende Qualitätssicherung, will aber nicht, dass sich der Bund fachlich einmischt. Der Berufsverband der Ärzte FMH ist ebenfalls für nationale Qualitätskontrollen, aber vor allem zur Steuerung der Ärztezulassung, nicht zur Wahl des Arztes im konkreten Krankheitsfall, da nach sonst primär kostengünstige Ärzte zum Zuge kämen.

Die Eigenverantwortung des Arztes werde zunehmend durch kollektive Entscheide verdrängt: Dr. Cédric George, Chef der Privatklinik Pyramide (Bild: Martin Kappler; Weltwoche)

Subjektive Einschätzungen

Führen solche Massnahmen zu einem besseren Gesundheitssystem? «Alle reden von Qualität, überall will man Qualität messen, das ist eine ewige Diskussion», meint Cédric George, Mitgründer, Chef und Hauptaktionär der Privatklinik Pyramide in Zürich, im Gespräch. Eine einheitliche Spitalfinanzierung wäre sinnvoll, aber all die Ansätze zur Qualitätskontrolle seien mit subjektiven Einschätzungen verbunden, die kaum messbar seien. Es sei schwierig beurteilbar, wie gut ein Hausarzt sei, wenn der Patient etwa die Tabletten falsch oder gar nicht nehme oder wenn unklar sei, wie die Information zwischen Arzt und Patient genau gelaufen sei. Aber ist es denn falsch, mehr Prüfvorgänge in den Spital- oder Praxisalltag einzubauen, um Fehler zu vermeiden? George sieht dies skeptisch: «Das treibt die Kosten weiter nach oben, und die Qualität nimmt meiner Ansicht nach eher ab, denn diese Verbürokratisierung führt zu einer weniger effizienten Medizin, die noch weniger auf die persönlichen Bedürfnisse der Patienten ausgerichtet ist.» In einem solchen System könne man als Arzt meist nicht mehr massgeschneidert im Einzelfall richtig handeln.

Wenn etwa Spitäler, Zentren oder andere Institutionen zertifiziert werden wollten, müssten sie ja gewisse Kriterien und mengenmässige Vorgaben erfüllen. Rasch passiere es dann, dass Diagnosen in eine bestimmte Richtung forciert würden, um die erforderlichen Fallzahlen, Kenngrössen oder Daten für eine bestimmte Studie zu erreichen. Oder man versuche über Kooperationen mit andern Institutionen die Kriterien zu erreichen – oft mit viel Papierkrieg und ohne wirklich produktive Zusammenarbeit. Nicht nur die Behörden, auch die Ärzteschaft selber treibe die Entwicklung in diese Richtung voran. Gross sei die Neigung, Verantwortung mit andern zu teilen, gemeinsam vorzugehen und so vermeintlich stärker zu werden.

Dabei werde die Eigenverantwortung des individuellen Arztes zunehmend verdrängt durch kollektive Entscheide. Auch im medizinischen Alltag nehme die Kollektivierung von Entscheidungen über sogenannte Boards überhand. Moment, ist es denn nicht sinnvoll, wenn in wichtigen Fragen Zweitmeinungen und Einwände offen diskutiert werden? Doch, manchmal schon, findet George, aber Gruppenentscheide durchs Band seien nicht mit dem Arztberuf vereinbar. Ein Arzt müsse in seiner Entscheidung grundsätzlich unabhängig und frei sein, natürlich immer gemäss wissenschaftlichen Kriterien und dem Stand des Wissens. Er warnt: «Meiner Ansicht nach ist es gefährlich für Patienten, sich in ein solches System zu begeben, wenn ein Arzt Entscheidungen trifft, die er nicht träfe, wenn er frei wäre.»

George ist vergleichsweise frei, er hat sich seinerzeit entschieden, grossenteils ausserhalb dieses öffentlich finanzierten Gesundheitssystems zu arbeiten. Freiheit sei eine ethische Notwendigkeit für den Beruf, er habe in dieser Hinsicht sehr viel gelernt von seinem ehemaligen Lehrer Hans-Ulrich Buff, dem früheren Chefarzt Chirurgie am Universitätsspital Zürich. Damals habe noch gegolten: Waren bestimmte Probleme zu besprechen, kam der Gesundheitsminister zum Gespräch ins Büro des Arztes, heute sei es umgekehrt – so viel zur Freiheit der Ärzte. Die Behandlung kranker Menschen lasse sich nicht in ein System pressen, in dem man am Schluss nicht mehr selbständig nach seinem Gewissen entscheiden könne. Ein Gewissen sei immer individuell, ein kollektives Gewissen gebe es nicht.

Die Klinik Pyramide am See hat George 1992/1993 zusammen mit andern gegründet, in nur vier Monaten vom Bürohaus umgebaut und seither als Anbieter für Privatversicherte im Markt etabliert. Mit 125 Mitarbeitenden, gut 130 Belegärzten, 25 stationären und 15 kurzstationären Betten kommt die Klinik auf einen Jahresumsatz von gut 20 Millionen Franken. Als plastischer Chirurg musste sich George schon früh dem freien Markt stellen, denn ästhetische Behandlungen, die rund einen Drittel der plastisch-wiederherstellenden Arbeit seiner Praxis ausmachen, werden bekanntlich nicht von den Kassen übernommen. Die Patienten tragen die Kosten selber, ähnlich wie bei den Zahnärzten, wo ebenfalls Eigenverantwortung und Effizienz dominieren – ganz im Gegensatz zur Situation in der geschützten Werkstatt des Gesundheitssystems. Im Markt der ästhetischen Chirurgie könne man sich nur halten, wenn Preis, Leistung und Qualität stimmten; oder in seinen Worten: «Es gibt kaum einen Chirurgen, der mit dem Skalpell jahrelang Erfolg hat, ohne hohe Qualität zu bieten. Die beste Qualitätskontrolle ist der Erfolg, den ein privater Arzt ausserhalb des Systems über längere Zeit hat, dann braucht es gar keine grosse Bürokratie fürs Messen.»

Die Klinik hat allerdings ein Handicap: Da ihre Kunden ausschliesslich Privatversicherte sind, entfällt jener Sockelbeitrag des Kantons, den Spitäler mit Allgemeinabteilung für jeden Patienten zugut haben und der etwa die Hälfte der Behandlungskosten auf der Allgemeinabteilung
im Listenspital ausmacht. Die Pyramide hätte, wie etwa der Konkurrent Hirslanden, bei der Einführung der neuen Spitalfinanzierung 2012 auch für die Liste kandidieren können. Sie hätte eine Allgemeinabteilung einführen müssen, dafür aber Anrecht auf den staatlichen Zustupf gehabt. Das wollte George nicht. Er ist überzeugt davon, dass seine Klinik sogar dann konkurrenzfähig ist, wenn Versicherer oder Versicherte den entgangenen staatlichen Sockelbeitrag für sich als Aufschlag einberechnen müssen.

Er vertraut denn auch für die nächste grosse Investition auf diese Fähigkeit: Kürzlich hat die Gemeinde Küsnacht die Bewilligung für eine neue Klinik auf dem Gelände der ehemaligen Klinik St. Raphael erteilt. Die Pyramide soll auf 2022 von Zürich in den Neubau in Küsnacht umziehen. Mit 66 Zimmern soll das Unternehmen auch weiterhin überschaubar bleiben. Das Fachspektrum soll breiter werden und neben den vielfältigen Arten der Chirurgie auch Onkologie, Rheumatologie, Gastroenterologie, Kardiologie, Radiologie, Physiotherapie und Anästhesiologie umfassen, die ebenfalls in den medizinischen Zusammenhang gehörten. In ungefähr fünf Jahren möchte George die Führung an einen seiner Söhne
abgeben und sich dann mehr der Gesundheitspolitik zuwenden.

Selbstbedienungsladen ohne Kasse

Apropos Politik: Hat das Volk Mitte der neunziger Jahre eigentlich ein schädliches Krankenversicherungsgesetz beschlossen? Nach Georges Einschätzung hat vor allem das damals eingeführte Obligatorium der Krankenversicherung die Eigenverantwortung untergraben, später sei die Prämienverbilligung dazugekommen, und heute sei alles derart verwischt und quersubventioniert, dass sich viele Leute ohne ein Gefühl für Kosten ihre Behandlungen vom Staat vorschreiben liessen und sich aufführen könnten wie in einem Selbstbedienungsladen ohne Kasse am Ausgang. Wäre eine Obergrenze für die Gesundheitskosten sinnvoll? Ein Globalbudget zur Beschränkung der Gesundheitsausgaben könnte er sich vorstellen – etwa wie in Italien, wo nach der Deckelung der staatlichen Gesundheitsausgaben die private Medizin enorm expandiert habe.

Klar, das laufe auf eine Zwei- oder Dreiklassenmedizin hinaus und sei beim Volk nicht beliebt, aber eine Obergrenze pro Person mit der Möglichkeit zum privaten Kauf von Zusatzleistungen sei eigentlich nicht abwegig. Die Zwei- oder Dreiklassenmedizin sei im Alltag ja ohnehin schon Realität. Demokratischen Kontrollmechanismen traut er nicht sehr viel zu, denn kollektive Entscheide bedeuteten meist: Verantwortung abwälzen, und das sei das Kernproblem. Die Bevölkerung erhalte hochstehende Spitalleistungen, die zu über fünfzig Prozent vom Staat finanziert würden. Die Erfahrung zeigt, dass Politiker, denen es um Populariät und Wiederwahl geht, es sich nicht erlauben können, eine derartige Umverteilung auf normalere Masse zurückzuführen. Dennoch, für George ist es unverständlich, dass bei einem derart wichtigen Gut wie der Gesundheit dem Bürger die Eigenverantwortung abgenommen wird.

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Quelle: Weltwoche