Das stille Leiden: Harninkontinenz und Beckenbodenschwäche bei Frauen

04.11.2019

Obwohl Inkontinenz und gynäkologische Senkungszustände relativ häufig sind, gehören sie immer noch zu den Tabuthemen unserer Gesellschaft, und Betroffene trauen sich oft nicht, darüber zu reden. Vor allem Frauen fühlen sich durch den ungewollten Harnverlust sehr belastet und versuchen, ihr Problem zu verbergen. Heute kann den meisten Patienten mit verschiedenen Behandlungen geholfen werden. Am Anfang steht das offene Gespräch mit dem Arzt: Denn für die Behandlung ist es wichtig, die Ursache der Störung zu erkennen.

Nach Schätzungen leiden ca. 500’000 Frauen in der Schweiz an Harninkontinenz und Blasenschwäche. Diese können unterschiedlichste Gründe haben und in jedem Lebensalter auftreten. Aufgrund des weiblichen Körperbaus sind Frauen häufiger als Männer von Blasenschwäche betroffen, besonders in der Zeit um die Menopause und danach. Viele Frauen nehmen die Belästigung resigniert als unabänderlich hin. Die psychische Belastung kann aber auch so weit gehen, dass sich betroffene Frauen aus Angst vor Peinlichkeit völlig zurückziehen, Freundschaften aufgeben und intime Kontakte meiden. Hier ist Aufklärung dringend nötig, denn gegen Inkontinenz kann etwas getan werden: am Anfang mit konservativen Behandlungen wie z.B. Physiotherapie und später bei fehlender Besserung mit minimal-invasiven Eingriffen.

Die richtige Trinkmenge

Die Nieren und ableitenden Harnwege haben eine wichtige Aufgabe im Wasserhaushalt des Körpers und bei der «Entsorgung» der Endprodukte des Stoffwechsels. Bereits bei der Frage der ausreichenden Trinkmenge gibt es viele Unsicherheiten. Viele Frauen trinken deutlich mehr, als sie benötigen, in der Hoffnung, dies helfe beim Abnehmen oder mache die Haut jünger. Alles was getrunken wird, muss aber wieder ausgeschieden werden. Der Flüssigkeitsbedarf beträgt bei normaler Tätigkeit ca. 25–30 ml Flüssigkeit pro Kilogramm Körpergewicht. Bei einem Gewicht von 60 kg sind dies 1500–1800 ml. Bei Sport und warmen Temperaturen sollte man mehr trinken. Vor allem Alkohol kann Inkontinenz und Reizblasenbeschwerden verstärken, ebenso Kaffee und Tee. Alles zählt aber als Flüssigkeit. Viele Frauen denken, sie trinken zu wenig. Das Führen eines Blasentagebuchs, in welchem die gemessenen Trinkmengen und Urinportionen festgehalten werden, ist deshalb sehr hilfreich und informativ. Das normale Fassungsvermögen der Blase beträgt 3–5 dl. Wird diese Kapazität nicht trainiert, so kann die Blase kleiner werden. Der Harndrang erfolgt dann immer früher oder kann so plötzlich auftreten oder so stark sein, dass sich die Blase spontan zusammenzieht und unaufhaltsam Urin entleert. Es gibt unterschiedliche Arten von Blasenschwäche, vielfach auch Mischformen, die abhängig von den zugrunde liegenden Störungen behandelt werden müssen. Darum ist es so wichtig, den Arzt aufzusuchen und eine exakte Diagnose stellen zu lassen. Dabei werden viele Informationen rund um die Blasenfunktion diskutiert, unter anderem auch die normale Trinkmenge. Die genaue Untersuchung von Blase und Beckenboden bei der Frau nennt sich urogynäkologische bzw. urodynamische Untersuchung und erfolgt durch den Spezialisten.

Die Belastungsinkontinenz

Bei der Belastungsinkontinenz kommt es durch körperliche Aktivitäten wie Husten, Niesen, Laufen oder Springen zum Urinabgang. Auch das Heben schwerer Lasten kann zu Inkontinenz führen. Von Belastungsinkontinenz spricht man, weil die Belastung der Blase, also ein Druck auf die Blase, die Inkontinenz bewirkt. Diese Form der Inkontinenz ist die häufigste Form. An Belastungsinkontinenz leiden Frauen in allen Altersgruppen. Frauen im mittleren Lebensalter sind jedoch besonders häufig betroffen. Die Fähigkeit, während einer Belastungssituation den Urin zurückzubehalten, hängt von der koordinierten Zusammenarbeit ausgewählter Muskeln, Nerven und Bänder des Beckenbodens ab. Diese Strukturen müssen dem erhöhten Bauchdruck, der sich auf die Blase auswirkt, entgegenwirken. Die häufigsten Ursachen der Belastungsinkontinenz sind Harnröhrenschwächung und Schädigung des Blasenhalteapparats als Folge von Geburten und zunehmendem Alter. In eigenen Untersuchungen konnten wir erstmals nachweisen, dass mit zunehmendem Alter täglich durchschnittlich eine Muskelfaser in der Harnröhre der Frau verschwindet und damit die Verschlusskraft der Harnröhre abnimmt. Wir wissen, dass auch Beckenbodenschädigung, Bindegewebsschwäche, Nervenschädigung und lokaler Hormonmangel mit zunehmendem Alter die Belastungsinkontinenz begünstigen können.

Das Beckenbodentraining

Die Beckenbodenmuskulatur und das Beckenbindegewebe spielen eine wichtige Rolle zur Sicherung der Kontinenz. Bei der urogynäkologischen Abklärung erfährt man, wie stark der Beckenboden ist und ob ein Beckenbodentraining sinnvoll wäre. Mittels Ultraschall kann man sehen, was das gezielte Anspannen des Beckenbodens bewirkt und ob man die Beckenmuskeln richtig anspannen kann. Zu den konservativen Massnahmen gehören auch verschiedene spezielle Kontinenztampons und sog. Pessare, welche angepasst werden und so zum Beispiel bei Sport die Kontinenz verbessern helfen. Diese Tampons können durch die Patientin selber bei Bedarf in die Scheide eingeführt und danach wieder entfernt werden.

Das Kontinenzbändchen

Kann eine Belastungsinkontinenz mit konservativen Therapiemassnahmen nicht zufriedenstellend behandelt werden, so kann eine Inkontinenzoperation weiterhelfen. Die «Bändchenoperation» wurde Mitte der Neunzigerjahre erfunden und hat die Inkontinenzchirurgie revolutioniert. Dabei wird ein Kontinenzband (TVT: Tension free Vaginal Tape) unter die Harnröhre eingeführt, das den Verschluss der Blase unterstützt.

Das KontinenzbandAbb. 1: Das Kontinenzband wird unter die Harnröhre eingeführt, womit der Verschluss der Blase unterstützt wird.

Das TVT-Bändchen hat eine netzartige Struktur und besteht aus Kunststoff. Es hat sich in vielen Millionen Operationen bewährt. Das Band wird vom Körper nicht abgestossen. Der Eingriff wird unter lokaler Anästhesie minimalinvasiv vorgenommen, und nur zwei kleine Durchstichstellen oberhalb der Schamhaare bleiben als Narben sichtbar. Bei Belastungen, wie dies typischerweise beim Husten der Fall ist, kommt es zu einer Art Knickung der Harnröhre, wodurch der Urinabgang verhindert wird. Während der Operation ist die Patientin wach und muss bei gefüllter Blase wiederholt husten. Dabei wird das TVT-Band so lange über die oberhalb des Schambeins herausragenden Bandenden angezogen, bis fast kein Urin mehr abgeht und die Blase «dicht» ist. Die richtige Anspannung des Bandes ist wichtig, denn wird das Band zu fest angespannt, kann die Patientin nicht mehr gut Wasser lösen und die Blase entleert sich nicht mehr vollständig. Liegt das Band zu locker, verliert die Patientin unverändert Urin. Die Kunst besteht also darin, das TVT-Band nicht zu straff und auch nicht zu locker einzulegen. Die Erfolgsraten sind abhängig von der Erfahrung des Chirurgen und liegen bei 80 bis 90 Prozent.

Blase im Ruhezustand und mit KontinenzbandAbb. 2: Im Ruhezustand wird die Blase nicht belastet. (Bild links)
Bei Belastungen, wie z.B. beim Husten, kann es durch Druckerhöhung im Bauchraum zur Absenkung der Blase und der Harnröhre kommen. Das Bändchen unterstützt die Harnröhre und führt dabei zu einer sichtbaren Knickung, was den Abgang von Blaseninhalt verhindert (Bild rechts).

Die Reizblase

Was man im Volksmund nervöse Blase, Reizblase oder Dranginkontinenz nennt, heisst in der Fachsprache überaktive oder hyperaktive Blase. Das Hauptsymptom der überaktiven Blase ist ein plötzlich auftretender, störender, krankhafter Harndrang. Als Folge davon kommt es zu gehäuftem Wasserlösen am Tag und teilweise sogar in der Nacht. Unter Umständen kann die Harninkontinenz eintreten, bevor die Toilette erreicht wird: Dann spricht man von Dranginkontinenz. Mindestens jeder sechste Erwachsene leidet an einer überaktiven Blase. Damit gehört das Krankheitsbild der überaktiven Blase zu einer der häufigsten Krankheiten und ist verbreiteter als z.B. die Zuckerkrankrankheit oder Rheuma.

Blasentraining und Verhaltensänderung

Beckenbodentraining hilft auch bei der hyperaktiven Blase. Zusätzlich sind aber Verhaltensänderungen sehr wichtig. Dazu gehören das Anpassen der Trinkmenge, evtl. der Verzicht auf scharfe Gewürze, Nikotinstopp, die Reduktion kohlensäurehaltiger Getränke und schliesslich auch eine Gewichtsreduktion. Es wurde nachgewiesen, dass eine Reduktion der Flüssigkeitszufuhr auf 1 bis 1,5 Liter pro Tag zu einer Verbesserung der Symptome führt. Blasentraining und Medikamente sind wichtige Elemente einer erfolgreichen Therapie. Ziel des Blasentrainings ist die Steigerung des Blasenfassungsvermögens. Die zeitlichen Abstände zwischen den Toilettengängen werden schrittweise und teils mit Unterstützung von «blasenentspannenden» Medikamenten erhöht. Die Blase lernt somit, mehr Wasser aufzunehmen und zu behalten, ohne dass Urin abgeht.

Medikamente und Hormone

Die Reizblase kann auch mit Medikamenten behandelt werden. Seit einigen Monaten ist auch in der Schweiz ein Präparat mit neuartigem Wirkungsmechanismus und weniger Nebenwirkungen zugelassen. Alle Medikamente versuchen, die Blase zu «beruhigen». Sie reduzieren den Drang und verhindern, dass sich der Blasenmuskel unwillkürlich zusammenzieht. Mit den Medikamenten lassen sich die Beschwerden deutlich lindern, bei manchen Patienten kommt es sogar zu einer Normalisierung. Die am häufigsten eingesetzten Medikamente werden einmal täglich in Tabletten- oder Kapselform eingenommen. Viele Patienten verspüren schon in den ersten Wochen eine Besserung ihrer Beschwerden. Innerhalb von drei Monaten tritt die volle Wirkung meist ein. Danach sollte das Medikament über längere Zeit eingenommen werden. Manifestieren sich die Reizblasenbeschwerden nach der Menopause, so können auch lokal wirksame Hormonsalben oder Zäpfchen hilfreich sein. Die Östrogene bauen die Schleimhaut in der Harnröhre, der Blase und auch in der Scheide wieder auf und stellen den Zustand vor den Wechseljahren wieder her. Eine erste Besserung von Drangsymptomen und Brennen, Jucken oder Schmerzen beim Geschlechtsverkehr ist nach ein bis zwei Monaten spürbar. Da Östrogene etwas ersetzen, was fehlt, stellen sich beim Absetzen der Therapie wieder dieselben Probleme ein. Deshalb empfiehlt sich eine andauernde Behandlung. In manchen Fällen verschwindet die lästige Blasenschwäche dann ganz.

Injektionen von Botulinumtoxin

Botulinumtoxin, das für die Faltenbehandlung bekannt ist, kann auch zur Behandlung der Reizblase eingesetzt werden. Botulinumtoxin ist ein Naturprodukt und wird in der Medizin schon seit vielen Jahren für ernsthafte Erkrankungen des Nerven- und Muskelsystems eingesetzt. Es wird heute aufgrund der eindrücklichen Wirkung auch «Penicillin des 21. Jahrhunderts» genannt. Die Botulinumtoxin-Therapie für die Blase, die auch von den Krankenkassen übernommen wird, kommt dann zum Zuge, wenn alle konservativen, individuell anpassbaren Therapieoptionen mit Blasentraining, Beckenbodentraining und Medikamenten nicht zielführend waren. Der Wirkstoff wird während einer Blasenspiegelung an ca. 20 verschiedenen Stellen in den Blasenmuskel gespritzt. Diese einfache Therapie führt häufig zu einer sehr eindrücklichen Verbesserung der Drangsymptomatik. Die Wirkungsdauer beträgt durchschnittlich etwas weniger als ein Jahr. Viele Frauen benötigen aber erst nach ein bis zwei Jahren eine erneute Injektionstherapie.

Botulinumtoxin wird direkt in den Blasenmuskel gespritzt.Abb. 3: Botulinumtoxin wird direkt in den Blasenmuskel gespritzt.

Zusätzliche Beschwerden durch trockene Scheide

Ein besonderes Problem, insbesondere für das Entstehen einer Reizblase, ist die wechseljahrbedingte Austrocknung der Scheide. Die gesunde Scheide hat eine dicke Oberfläche, ist gut durchblutet und feucht. Hormonelle Veränderungen nach den Wechseljahren verändern die Scheidenhaut. So lässt nach der Menopause die Durchblutung nach und damit auch die Fähigkeit, Flüssigkeit zu bilden. Die Scheide wird kürzer, enger und weniger elastisch und die Scheidenhaut dünner, empfindlicher und trockener. Während andere Wechseljahrbeschwerden wie Hitzewallungen auch ohne Behandlung nach einigen Jahren wieder verschwinden können, wird die trockene Scheide erst nach einigen Jahren der Abänderung manifest und verschlimmert sich danach schleichend. Eine trockene Scheide kann sich leichter entzünden. Juckreiz, Drang- und Druckbeschwerden sowie wiederkehrende Infekte sind die Folgen. Auch der Geschlechtsverkehr kann unangenehm und schmerzhaft werden. Ist Östrogenmangel aufgrund der Wechseljahre die Ursache, können hormonhaltige Vaginalcremes verschrieben werden. Die Behandlung sollte möglichst früh einsetzen.Wer keine Hormone anwenden möchte oder darf, kann sich mit nichthormonellen Präparaten (Gleitgels, Feuchtigkeitscremes und -zäpfchen mit pflegendem Effekt) versorgen. Sie sind allerdings den hormonhaltigen Präparaten in ihrer Wirksamkeit deutlich unterlegen.

Die Mischinkontinenz

Bei der Mischinkontinenz sind die Patienten sowohl von Symptomen der hyperaktiven Blase mit Drang- und Dranginkontinenz als auch von Symptomen der Belastungsinkontinenz betroffen (siehe Tabelle unten). Dabei können die Symptome beider Inkontinenzformen unterschiedlich ausgeprägt sein. Oft tritt bei der Mischinkontinenz eine der beiden Inkontinenzformen stärker in Erscheinung. Die Häufigkeit der Mischinkontinenz steigt vor allem mit fortschreitendem Lebensalter. Besonders Frauen ab dem 50. Lebensjahr sind von dieser Form der Inkontinenz betroffen. Nach der Belastungsinkontinenz ist sie die zweithäufigste Inkontinenzform bei Frauen. Aufgrund der vielfältigen und unterschiedlichen Symptome ist die Mischinkontinenz etwas schwieriger zu diagnostizieren und zu behandeln als die übrigen Formen der Inkontinenz. Die Therapie der Mischinkontinenz basiert auf den individuellen Problemen und Symptomen der betroffenen Person. Aus diesem Grund sollte sich die Behandlung im ersten Schritt nur auf eine Form der Inkontinenz konzentrieren. Dazu gilt es, im Rahmen der urodynamischen Diagnostik herauszufinden, welche Inkontinenzform stärker ist und die Betroffenen am meisten belastet. Bei den gemischten Blasenbeschwerden ist in der ersten Therapiephase das Führen eines Blasentagebuchs wichtig. Dabei muss aufgeschrieben werden, was wann getrunken wird und wann wie viel Urin entleert wird. Im Anschluss daran wird mit der Behandlung der dominierenden Inkontinenzform begonnen, und meistens kann schon bald eine Linderung der Beschwerden gespürt werden.

Inkontinenzformen und -symptome

Belastungsinkontinenz
Reizblase Überaktive Blase
Urinabgang bei Husten, Niesen, RennenJaNein
Urinabgang beim Heben von LastenJaNein
Plötzlich auftretender DrangNeinJa
Häufiges WasserlösenTeilweiseJa
Urinverlust bei DrangTeilweiseJa
Nächtliche ToilettengängeSeltenJa


Weitere Informationen finden Sie unter Fachgebiet Gynäkologie.

PD Dr. med. Daniele Perucchini

Facharzt FMH für Gynäkologie und Geburtshilfe, Spezialgebiet: Inkontinenz

Blasenzentrum Zürich
Gottfried Keller-Strasse 7
8001 Zürich
Telefon 044 253 24 40
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