12.09.2016
Eine Meniskus-Operation sollte man nicht übers Knie brechen. Eine neue Studie empfiehlt, den Eingriff durch Physiotherapie zu ersetzen.
Wenn mitten im Fussballmatch das Knie plötzlich blockiert und ein giftiger Schmerz einen zu Boden streckt, könnte gerade der Meniskus gerissen sein. Die bei jungen Menschen häufige Sportverletzung macht jedoch nur einen kleinen Teil der Probleme aus, die uns der Knorpel im Knie bereitet. Bei der Hälfte der Meniskus-Risse baut sich der Schmerz langsam auf, weil das Gewebe nach jahrelanger Beanspruchung seine Funktion verliert. Derartige degenerative Veränderungen treten in der Altersgruppe ab vierzig Jahren auf. Und wer schnelle Abhilfe für die Beschwerden im Knie sucht, begibt sich auf den Operationstisch.
In Schweizer Spitälern fanden im Jahr 2014 laut dem Bundesamt für Statistik 21‘891 Eingriffe statt, bei denen ein Teil des Orangenschnitzförmigen Knorpels entfernt wurde. Gemäss einer neuen Studie aus Skandinavien könnten das 21‘891 Operationen zu viel gewesen sein. Die Wissenschaftler hatten 140 Patienten mit einem Meniskus-Riss über zwei Jahre beobachtet. Sie fanden heraus, dass die Beschwerden ebenso gut durch gezielte Physiotherapie behoben werden konnten wie durch die Operation mittels sogenannter Arthroskopie («British Medical Journal», Bd. 354, online).
Es ist nicht die erste Studie, die auf derartige Ergebnisse stösst. Auch in der Schweiz nimmt sich jetzt das Swiss Medical Board, welches im Auftrag des Bundes Kosten und Wirksamkeit von medizinischen Behandlungen untersucht, des Nutzens der Arthroskopie am Knie an. Bereits 2014 sprach sich das Board dafür aus, dass eine andere Verletzung am Knie, der Riss des vorderen Kreuzbandes, besser durch Physiotherapie als durch eine sofortige Operation behandelt werden sollte.
Warum werden dann derart viele Patienten operiert? «Seit einigen Jahren bleibt die Zahl der Meniskus-Operationen stabil», sagt Erwin Wüest vom Bundesamt für Statistik. Dass man zwischen 2013 und 2014 einen leichten Rückgang beobachten konnte, will Wüest aber noch nicht als Trend bezeichnen.
Pia Fankhauser, Vizepräsidentin des Schweizer Physiotherapie-Verbands Physioswiss, sieht dies ähnlich. «Der Trend zur Operation ist ungebrochen», sagt Fankhauser. Zwar seien Physiotherapeuten keine Wunderheiler. Aber bei Schmerzen, die durch Verschleisserscheinungen erzeugt werden, könnten Bewegungstraining und andere physiotherapeutische Massnahmen das Problem oft lösen. Jemand, der wieder Fussball spielen will, benötigt allerdings ein anderes Training als jemand, der ohne Schmerzensschrei die Spülmaschine einräumen möchte. Wer sich nun vor lästigen oder komplizierten Turnübungen fürchtet, darf sich freuen. «Wir entwickeln Übungen, die sich leicht in den Tag einbauen lassen», erklärt Fankhauser. «Während man der Kaffeemaschine verträumt beim Füllen der Tasse zuschaut, kann man stattdessen auch eine kleine Beinübung ausführen.»
Hannu Luomajoki, Experte für Muskuloskelettale Physiotherapie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, schätzt die Kosten der Operation auf ein Mehrfaches der Physiotherapie. «Die Erfahrung zeigt, dass bei Verschleiss beide Methoden gleichwertig sind», sagt er. Er vermutet, dass die Patienten selbst häufig auf eine Arthroskopie drängen «Eine Operation gilt für viele Menschen auch heute noch als die ultimative Lösung für alle medizinischen Probleme», sagt Luomajoki. Hinzu kämen moderne Bildtechniken, wie das MRI, mit denen man den Patienten die degenerativen Schäden am Kniegelenk vor Augen führe. «Das kann natürlich eindrücklich aussehen.»
Es gibt jedoch auch Orthopäden, die eine Operation an einem Knie mit degenerativen Schäden nicht empfehlen. Sie warnen vor einer Überinterpretation derartiger Bilder. «Patienten können massive Schmerzen haben, und trotzdem sieht der Meniskus im MRI vielleicht gut aus», sagt Andreas Keller von der Endoclinic in der Zürcher Klinik Hirslanden. Umgekehrt könnten dramatische Bilder von beschwerdefreien Patientenvorliegen. Und wenn der Meniskus einmal entfernt sei, wachse der Knorpel nicht mehr nach. Auch Andreas Oberholzer von der Klinik Pyramide in Zürich bemerkt heute eine grössere Zurückhaltung der Orthopäden, unter allen Umständen zu operieren. «Das Umdenken, erst alle konservativen Massnahmen auszuschöpfen, hat sich aber noch nicht bei allen durchgesetzt», sagt der Mediziner.
Artikel der NZZ am Sonntag von Andrea Six