Neuropelveologie

12.06.2019

Eine bahnbrechende Innovation in der Gynäkologie: die Neuropelveologie

Durch die Einführung der Laparoskopie («Schlüsselloch-Chirurgie») in der Gynäkologie hat sich die Frauenheilkunde über die letzten Dekaden völlig verändert. Die Bauchspieglung ist inzwischen nicht nur eine Alternative für die Chirurgie am offenen Bauch, sondern vielmehr eine Art mobiles Mikroskop, das einen einmaligen Zugang zu allen Beckennerven ermöglicht – Nerven, die grösstenteils weder sichtbar noch per Bauchschnitt zugänglich sind. Aus dieser Möglichkeit der Darstellung und Behandlung von Erkrankungen der Beckennerven per Laparoskopie ist die Neuropelveologie (die Neurologie der Beckennerven) entstanden.

Die «Beckennerven-Navigation» per Bauchspieglung

Die erste Implikation der Neuropelveologie in der Gynäkologie sind die sog. nervensparenden Beckenoperationen. Blasen- und Darmentleerungsstörungen sowie Verlust der Sexualität nach ausgedehnten Beckenoperationen waren über Generationen sowohl von Ärzten als auch von Patientinnen immer als Schicksal akzeptiert worden. Die Neuropelveologie hat diese Situation völlig verändert, indem sie sich eines aus der Neurochirurgie bekannten Verfahrens bedient, nämlich der elektrischen Reizung der Beckennerven – der sog. Becken-Neuro-Navigation. Durch diese Methode werden die Beckennerven nicht nur optisch, sondern auch neurophysiologisch viel besser erkannt und somit besser geschont. Diese völlig andere Art des Operierens ermöglicht nun ausgedehnte Beckenkrebsoperationen, aber auch ausgedehnte Endometriose-Operationen ohne grosse Risiken bezüglich der befürchteten Funktionsstörungen nach der Operation. Selbstentleerung der Blase mit Kathetern, anhaltende Verstopfung und Zerstörung der Sexualität nach Beckenoperationen sind nun kein Schicksal mehr, sondern vermeidbare Komplikationen geworden.

Beckennerven-Schmerzen

Rund zwölf Prozent aller Frauen und Männer leiden an schwer behandelbaren Unterbauchschmerzen. Die Laparoskopie ist schon seit mehr als 20 Jahren die Methode der Wahl zur Feststellung und Behandlung organischer Ursachen (Myome, Verwachsungen, Endometriose, Beckenentzündungen, Erkrankungen der Prostata oder des Enddarmes). Die Neuropelveologie erweitert dieses Feld um die Beckennerven-Schmerzen (sog. neuropathisches Pelvic-Pain-Syndrom): Genauso, wie Erkrankungen der Rückennerven zu Schmerzen führen (der klassische Ischiasschmerz), führen Erkrankungen der Beckennerven zu Schmerzen und Funktionsstörungen. Unklare Unterbauchschmerzen, Schmerzen der genitalen Organe (Vulvodynie, Pudendalschmerz, perianale Schmerzen) und Schmerzen des tiefen Rückens (Coccygodynie) sowie Gesäss-/Beinschmerzen (auch Ischiasschmerzen bei unauffälligen Rückennerven) können nicht länger als psychosomatisch eingestuft werden. Durch die Laparoskopie der Beckennerven können Irritationen oder Kompressionen wie auch Verletzungen der Beckennerven festgestellt werden, die solche Schmerzen verursachen können. Die Behandlung solcher neuropathischen Schmerzen beruht auf der Entlastung und Befreiung der gereizten Nerven. Bei irreversiblen Schädigungen der Nerven (z. B. durch operationsbedingte Verletzungen) oder bei Nervenerkrankungen (Multiple Sklerose, Parkinson) hilft die alleinige Befreiung der Nerven nicht. In diesem Fall ist die sog. Neuromodulation die nächste Methode der Wahl. Eine Stimulationselektrode wird in direktem Kontakt zum geschädigten Nerv platziert, was zu einer Schmerzreduktion führt. Mit einer Fernbedienung kann der Patient selbständig die Intensität der Stromabgabe bestimmen.

Die Behandlung der Reizblase und der Stuhl-/Urininkontinenz

Jede fünfte Frau, die in die Praxis des Frauenarztes kommt, klagt über eine schwache Blase. Die Harninkontinenz betrifft alle Altersgruppen, nimmt jedoch mit wachsendem Alter zu. Die Behandlung richtet sich nach dem Typ, dem Schweregrad und den zugrunde liegenden Ursachen. Medikamente werden vor allem zur Behandlung der hyperaktiven Blase eingesetzt und sind aufgrund der möglichen unerwünschten Nebenwirkungen nicht unumstritten. Es gibt auch eine Reihe von Operationsmethoden, bei denen der Beckenboden gestrafft und die Harnröhre wieder aufgerichtet wird. Operationen per Bauchschnitt sind jedoch heutzutage nicht mehr notwendig und wurden komplett durch vaginale oder minimalinvasive Verfahren ersetzt. Bei der Behandlung von Patienten, bei denen Medikamente und Physiotherapie versagt haben oder die Therapie aufgrund inakzeptabler Nebenwirkungen abgebrochen werden musste, kann eine elektrische Stimulation der Beckennerven sehr hilfreich sein: Diese sog. Neuromodulation der Beckennerven mithilfe von implantierten Schrittmachern ist ein gängiges Verfahren zur Behandlung von Blasen- und Darmentleerungsstörungen geworden. Die Innovation der Neuropelveologie liegt darin, dass die Bauchspieglung die einzige Methode ist, die eine Platzierung von Stimulationselektroden an allen Beckennerven, den Nerven der Harnblase, des Mastdarms, des Schliessmuskels und sogar der Beine ermöglicht. Somit können sowohl Stuhl- und Urininkontinenz als auch die Reizblase ohne Nebenwirkung besser behandelt werden.

Auf den Spuren des «Bionic Man» – Fantasie oder schon Realität?

Die Königsdisziplin der Neuropelveologie ist vermutlich die Implantation von Stimulationselektroden an den Beckennerven zur Wiederherstellung der Gehfunktion bei querschnitt- gelähmten Patienten. 2003 führten wir die weltweit erste LION-Prozedur (Laparoscopic Implantation of Neuroprothesis) bei einem querschnittgelähmten Patienten durch. Seitdem wurden viele technische Innovationen in der Stimulationsapparatur realisiert – die Schrittmacher sind inzwischen von aussen per Induktion aufladbar. Durch die Stimulation der Beinnerven konnten wir in den letzten sechs Jahren schon über 20 Patienten dazu verhelfen, mit Unterstützung von Gehhilfen wieder aufzustehen und zu gehen. Neuere Untersuchungen zeigen sogar, dass durch die elektrische Dauerstimulation der Beckennerven Funktionen aufgrund einer Nervenerwachung oder sogar eines Nervenwachstums teilweise wiederhergestellt werden können. Wir konnten kürzlich in der Fachliteratur über vier querschnittgelähmte Männer berichten, die seit Jahren auf ihren Rollstuhl angewiesen waren und nun in der Lage sind, aufzustehen und zu gehen (sogar bis einen Kilometer). Dies, nicht nur durch den Strom, sondern auch durch ihren eigenen mentalen Willen.

Weitere Informationen finden Sie unter dem Fachgebiet: Neuropelveologie

Prof. Possover gilt als Pionier der minimalinvasiven Chirurgie und ausgewiesener Experte für die Krebsbehandlung der weiblichen Fortpflanzungsorgane sowie für die Behandlung der Endometriose.

Autor:
Prof. Dr. med. Marc Possover
Facharzt FMH Gynäkologie & Geburtshilfe
Schwerpunkt FMH für Operative Gynäkologie & Onkologie
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